Die Kanzlei Gansel Rechtsanwälte informiert über einen wichtigen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Überforderung von Bürgen.
Der Fall
Eine vermögenslose Hausfrau und Mutter zweier Kinder übernahm im Jahre 1988 für ihren Ehemann selbstschuldnerische Bürgschaften (Ehegattenbürgschaften) in einer Gesamthöhe von 200.000 DM. Die Bank nahm sie später aus der Bürgschaft auf Zahlung von 70.000 DM in Anspruch. 1992 wurde die Frau rechtskräftig zur Zahlung dieses Betrages an die Bank verurteilt, obwohl sie seit Ende 1990 von Sozialhilfe lebte. In der Folgezeit betrieb das Kreditinstitut die Zwangsvollstreckung gegen die Bürgin, obwohl das Bundesverfassungsgericht am 19.10.1993 entschieden hatte, dass Banken keine Bürgschaftsversprechen von finanziell überforderten Angehörigen annehmen dürfen.
Die Entscheidung
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde hatte die vermögenslose Bürgin Erfolg. Das BVerfG entschied, dass die Vollstreckung gegen einen rechtskräftig zur Zahlung verurteilten Schuldner verfassungswidrig ist, wenn das zu Grunde liegende Urteil auf
der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruht, die vom
BVerfG wie im Fall der Bürgschaftsentscheidung aus dem Jahre 1993 für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sind.
Die Richter begründeten ihre Entscheidung vorrangig mit einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Demnach können betroffene Bürgen weitere Vollstreckungsmaßnahmen aus einem Zahlungsurteil unter Berufung auf die Rechtsprechungsänderung des Bundesverfassungsgerichts nunmehr abwenden.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.12.2005, Az.: 1 BvR 1905/02
Der Kommentar
Das BVerfG stützte seine Entscheidungsbegründung auf den allgemeine Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 GG, den es als verletzt ansah. Dieser Grundsatz verbietet es, Sachverhalte ungleich zu behandeln, wenn sich die Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf einen sachlich einleuchtenden Grund zurückführen oder hinsichtlich der Art und Gewichtung vorhandener Unterschiede nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt. Das gelte – so die Verfassungsrichter - nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften durch Gerichte.
Die Richter befanden, dass das angegriffene Urteil gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, weil es den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 2 und Satz 1 BVerfGG (Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht, Entscheidungswirkung) in einer Weise einschränke, die zu einer verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung und durch die Vollstreckung aus verfassungswidrigen Entscheidungen zu einer Beeinträchtigung von Grundrechten führe.
Der § 79 Abs. 2 BVerfGG sei auch dann analog anzuwenden, wenn eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auf einer Auslegungsvariante beruht, deren Verfassungswidrigkeit das BVerfG festgestellt hat.
Die Bürgin konnte 1992, als sie zur Zahlung der o.g. Summe verurteilt worden, noch nicht die Rechtsauffassung des BVerfG zur Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit solcher Bürgschaften, wie der ihren, aus dem Bürgschaftsurteil vom 19.10.1993 geltend machen. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Bundesgerichtshof nunmehr auch der Auffassung, dass das gegen die Bürgin ergangene Urteil mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.
Die in Rede stehende Entscheidung ist über den vorliegenden Bürgschaftsfall von beachtlicher Bedeutung. Denn im Klartext bedeutet sie für die Praxis, dass rechtskräftige Entscheidungen im Rahmen einer Vollstreckungsgegenklage später mit der Begründung angegriffen werden können, dass die Vollstreckung gegen das Gleichheitsgebot verstoße. Davon betroffen sind zumindest Entscheidungen die auf einer nachträglich für verfassungswidrig erklärten Norm bzw. Auslegung und Anwendung einer Generalklausel ergangen sind.